Bauchgefühl

Jana Crämer litt bis vor wenigen Jahren an einer Essstörung und wurde in der Schule gemobbt. Dann nahm sie 100 Kilo ab und ihr Leben in die Hand. Heute ist sie Bestsellerautorin und ein gefeiertes Role Model mit knapp einer Million Followern in den sozialen Netzwerken. Im Rahmen der Initiative „BKK bauchgefühl“ besucht sie gemeinsam mit dem Musiker Batomae Schulen, um Jugendliche für das Thema „Essstörung“ zu sensibilisieren.

Jana, du hast selbst jahrzehntelang unter der Essstörung Binge-Eating gelitten. Wie erkennt man die ersten Warnsignale einer Essstörung?

Essen wurde zum Dauerthema: Kalorienlisten, heimliche Pläne, „Belohnungen“ und „Strafen“. Ich sortierte Lebensmittel in Schubladen: angeblich „gut“ für Kontrolle, angeblich „schlecht“ für den Körper. Verbote gaben mir kurz Halt und kippten dann in Heißhunger. Dazu kamen Alleingänge beim Essen, Vorräte, die schneller verschwanden, als ich erklären konnte, und ein Kreislauf aus Scham, Versprechen, Rückfall. Wer solche Muster bei sich erkennt, erlebt keine Schwäche, sondern ein ernstes Frühzeichen.

Wer hat dir in dieser schwierigen Lebensphase am meisten geholfen?

Menschen, die in diesen Prozess Licht brachten: Freundinnen und Freunde, die mit mir aßen, mit mir lachten, die klüger argumentierten als die innere Anklage und geduldiger blieben als die Scham. Sie schufen sichere Stunden, in denen ich atmen, essen und reden konnte – ohne Bewertung, mit Respekt und Humor.

Was glaubst du, warum immer mehr junge Menschen an Essstörungen leiden?

Die Welt rotiert: Krisen, Erwartungen, Bilderfluten. Vieles entzieht sich der eigenen Steuerung. Essen wirkt da wie ein Schalter, der sofort gehorcht. Wer die Menge, die Uhrzeit, die Produktwahl festlegt, spürt Kontrolle – für Minuten. Daraus entsteht ein System, das Freiheit verspricht und doch Fesseln anlegt. Essstörungen gedeihen in diesem Klima aus Daueranspannung, Selbstoptimierung und Vergleich.

Gemeinsam mit deinem besten Freund, dem Musiker Batomae, bist du mit der Initiative „BKK bauchgefühl“ an Schulen unterwegs. Welche Erfahrungen machst du da?

Unsere Konzertlesungen öffnen Räume. Erst knistert Neugier, dann kippt die Stimmung in ehrliche Aufmerksamkeit. Musik trifft Text, Kopf trifft Bauch. 

Wenn klar wird: Das hier ist keine Fallstudie, das ist mein Weg, dann sehe ich in Gesichter, die etwas wiedererkennen – Druck, Appetit, Sehnsucht, Angst. Nach dem letzten Ton bleiben Jugendliche stehen, stellen konkrete Fragen, erzählen eigene Geschichten.

Welche Reaktionen von Schüler*innen und Lehrkräften haben dich besonders bewegt?

Mich berühren Mails von Abschlussklassen, die Jahre später schreiben: Euer Auftritt hat etwas verändert. Plötzlich sprechen Mitschüler miteinander über Essen, Körper, Grenzen. Lehrkräfte berichten von neuen Gesprächen in Pausen, von mehr Fürsorge, von Blicken, die weicher wurden. Diese Rückmeldungen zeigen Wirkung jenseits der Bühne.

Was ist dein Rat an Jugendliche, die Hilfe benötigen und ihrer Essstörung den Kampf ansagen möchten? An wen sollten sie sich zuallererst wenden?

Bitte eröffnet keinen Krieg, weder gegen euch selbst noch gegen die Essstörung. Das bedeutet kleine, verlässliche Schritte, die Halt geben. Ein erstes Gespräch mit einer vertrauten Person. Ein Termin bei Ärztin, Therapeut oder Beratungsstelle. Schulsozialarbeit, Vertrauenslehrer, Eltern – jede Tür, die aufgeht, zählt. Hilfe kann auch leise beginnen: ein Buch, das euch versteht; eine Freundin, die beim Essen neben euch sitzt; eine Playlist, die durch eine schwere Stunde trägt. Hauptsache, es hilft und hält. Heilung liebt Geduld, klare Strukturen, Mitgefühl. Und sie beginnt oft mit dem einfachen Satz: „Ich brauche Unterstützung.“

Vielen Dank an Jana Crämer für das spannende Interview! 
© Foto: Jana Crämer/Eckard Albrecht